Bei dem Versuch, die unendlich große Menge an konstruierbaren Mechanismen zu systematisieren, ist eine grundlegende Erkenntnis hilfreich: Viele der Mechanismen lassen sich allein durch Veränderung der Proportionen ihrer Glieder ineinander überführen. Eine gute Möglichkeit der Systematisierung besteht nun darin, derartige Mechanismen als zum gleichen Typ gehörig zu betrachten, denn jeder Mechanismus gehört zu genau einem solchen Typ. Vor allem jedoch ist die Anzahl der Typen - für Mechanismen mit einer beliebigen, aber bestimmten Zahl von Gliedern - nur endlich. Sind alle Typen bekannt, so läßt sich jeder konstruierbare Mechanismus aus einem von ihnen erzeugen; und zwar wiederum nur durch Veränderung der Gliedabmessungen. Entsprechend große Bedeutung wird im Allgemeinen der Suche nach diesen Basistypen beigemessen. Da die Anzahl der Typen jedoch exponentiell mit der Anzahl der Glieder wächst, ist diese schon bei vergleichsweise einfachen Mechanismen schwierig. (Die Komplexität des Problems leite ich aus der Anschauung ab. Einen Beweis bringe ich hier nicht, die bekannten Werte - einschließlich der hier ermittelten - bestätigen jedoch den exponentiellen Charakter.)
Diese Arbeit konzentriert sich auf ebene mechanische Gliedergruppen, in denen ausschließlich einfache Drehgelenke zum Einsatz kommen. Auf diesem Gebiet wurden schon frühzeitig Anstrengungen für eine Systematisierung unternommen. Die beiden einzigen Typen sechsgliedriger kinematischer Ketten mit einem Freiheitsgrad sind längstens bekannt und werden traditionell als Wattsche und Stephensonsche Kette bezeichnet. Grübler veröffentlichte 1917 eine Liste mit Typen von achtgliedrigen Ketten. Dabei handelte es sich jedoch nur um diejenigen Typen, die durch Ergänzung mit Zweischlägen aus den beiden sechsgliedrigen Ketten abgeleitet werden können, so daß die Liste nur 12 der 16 möglichen Typen enthielt. Im Laufe der Zeit wurden dann auch die übrigen vier Typen sowie die 230 Typen zehngliedriger und die 6856 Typen zwölfgliedriger Ketten gefunden.
Durch die Verfügbarkeit elektronischer Rechentechnik wurden die Möglichkeiten der Typensuche enorm gesteigert, wobei aber gleichzeitig eine charakterliche Veränderung der Synthesealgorithmen notwendig war: Anschauung und Intuition mußten durch viele einfache, aber exakte Rechenschritte ersetzt werden. 1994 fand Tuttle mit einem PC die 318.162 Typen vierzehngliedriger kinematischer Ketten mit einem Freiheitsgrad. (Im Original werden 318.126 Typen genannt. Die Ergebnisse meiner Arbeit lassen jedoch einen Schreibfehler vermuten.) Damit sind Regionen erreicht, die praktisch kaum noch von Bedeutung sind. Für den Theoretiker wird die Typensuche jedoch nie beendet sein, und zumindest der Fortschritt der Computertechnik wird immer wieder neue Erkenntnisse möglich machen.
Ergebnisse, die dem derzeitigen Wissensstand entsprechen, machen durch ihren Aufwand den Einsatz von Computern unumgänglich. Das gilt sowohl für die Ermittlung als auch die Archivierung der Typen. Das Resultat einer zeitgemäßen Typensuche besteht demzufolge immer in einem computergerechten Algorithmus und/oder einem exakt spezifizierten elektronischen Datenbestand. Am Ende dieser Arbeit sollen derartige Ergebnisse für folgende Arten von mechanischen Gliedergruppen stehen:
Dabei sollen drei strenge Forderungen erfüllt sein:
Dadurch sind die gewünschten Ergebnisse inhaltlich eindeutig festgelegt.
Ich verwende im Folgenden die Bezeichnung 'mechanische Struktur' als Oberbegriff für kinematische Ketten, Mechanismen uns Assur-Gruppen. Die geometrischen Eigenschaften dieser Gliedergruppen werden dabei allerdings vernachlässigt, d.h. eine Struktur ist eindeutig bestimmt durch die Festlegung, welche Glieder paarweise durch Gelenke miteinander verbunden sind.
Zunächst muß eine exakte Formulierung des Problems erfolgen. Die entscheidenden Frage ist: Was ist ein Typ? Da die Abmessungen der Glieder vernachlässigt werden sollen, bleibt als wesentliche Information nur die Art der Verbindung der Glieder durch Gelenke. Bei einer mechanischen Struktur, deren Glieder die Menge N (|N|=n) bilden, ist also die Angabe der Menge der Gelenke K (|K|=k) für die Feststellung des Types ausreichend:
K = {(a,b) mit a≠b und a,b ∈ N}
Leider bietet dieses Modell keinen guten Ansatz für einen Vergleich zweier Typen, wie er zum Sicherstellen der dritten Forderung notwendig ist. Denn die Abbildung der Gliedmenge einer Struktur auf die einer anderen ist nicht trivial. Zwar ermöglichen schon einfache Kriterien wie z.B. die Positionen von Antrieb und Gestell (sofern vorhanden) erste eindeutige Zuordnungen, die Abbildung kritischer Glieder ist jedoch selbst mit komplizierten Verfahren wie der Hamming-Nummerierung nicht immer eindeutig. Ohne diese Eindeutigkeit müssen verschiedene Varianten der Zuordnung getestet werden, im ungünstigsten Fall alle n! Permutationen der Gliedmenge.
Ein weiteres Problem besteht darin, daß nicht alle solchen Gelenkmengen tatsächlich zu realen mechanischen Strukturen gehören. Woran also lassen sich die 'echten' Typen erkennen? Das erste Kriterium liefert die Zwanglaufbedingung:
f = 3(n-1) - 2k
Bei kinematischen Ketten und Mechanismen folgt aus f=1 unmittelbar die notwendige Mächtigkeit der Gelenkmenge:
f = 1
3(n-1) - 2k = 1
k = (3(n-1)-1)/2 = 3n/2 - 2
Um eine analoge Aussage für Assur-Gruppen zu erhalten, ergänze ich diese um zwei Glieder, die ein gemeinsames Gelenk besitzen. Wenn alle freien Gelenke der Assur-Gruppe mit einem dieser beiden Glieder verbunden werden, entsteht eine kinematische Kette mit einem Freiheitsgrad. Die Anzahl der Glieder erhöht sich dabei um 2, die der Gelenke um 1. Es gilt also f=1 für n+2 bei n und k+1 bei k:
f = 1
3(n+1) - 2(k+1) = 1
k = (3(n+1)-1)/2-1 = 3n/2
Die richtige Anzahl von Gelenken allein stellt jedoch die Korrektheit einer mechanischen Struktur noch nicht sicher, denn das Auftreten starrer Teilketten wird nicht ausgeschlossen. Dazu muß für jede Untermenge N' (|N'|=n') der Gliedmenge nachgewiesen werden, daß die gebildete Struktur mindestens einen Freiheitsgrad besitzt. Wenn k' die Anzahl der inneren Gelenke ist, muß also gelten:
f' ≥ 1
3(n'-1) -2k' ≥ 1
k' ≤ (3(n'-1)-1)/2 = 3n'/2 - 2
Angenommen, diese Bedingung werde durch eine Substruktur mit einer geraden Anzahl von Gliedern nicht erfüllt (d.h. sie besitzt keine Freiheit):
k' > 3n'/2 -2
Da n' gerade ist, stehen auf beiden Seiten der Ungleichung ganze Zahlen, die sich demzufolge um mindestens 1 unterscheiden:
k' ≥ 3n'/2 -1
Nun gibt es zwei Fälle:
Fall 1: Eins der Glieder der Substruktur ist an weniger als drei inneren Gelenken beteiligt.
Durch Entfernen dieses Gliedes entsteht eine neue, ebensfalls starre Substruktur:
n'' = n'-1, n'' ist ungerade
k'' ≥ k'-2
k'' ≥ 3n'/2 -3 = 3(n'-1)/2 + 3/2 -3 = 3n''/2 - 3/2
k'' > 3n''/2 -2
Fall 2: Alle Glieder der Substruktur sind an wenigstens drei inneren Gelenken beteiligt.
Die Summe der inneren Gelenke aller Glieder beträgt dann mindestens 3n'. Da jedes Gelenk genau zwei Glieder verbindet, ist es in dieser Summe auch genau zweimal gezählt worden:
2k' ≥ 3n'
k' ≥ 3n'/2
Wenn die Zwanglaufbedingung für die gesamte Struktur sichergestellt wird, dann kann es sich bei der starren Substruktur nicht um die gesamte Struktur handeln. Es ist also möglich, die Substruktur um ein weiteres Glied der gesamten Struktur zu erweitern. Selbst wenn dieses kein einziges inneres Gelenk liefert, hat die so erweiterte Substruktur immer noch zu viele davon:
n'' = n'+1, n'' ist ungerade
k'' ≥ k'
k'' ≥ 3n'/2 = 3(n'+1)/2 - 3/2 = 3n''/2 - 3/2
k'' > 3n''/2 -2
In beiden Fällen folgt aus der Existenz einer starren Substruktur mit einer geraden Anzahl von Gliedern die Existenz einer Substruktur, die aus einer ungeraden Anzahl von Gliedern gebildet wird und die Zwanglaufbedingung ebenfalls nicht erfüllt. Um zu entscheiden, ob eine beliebig gewählte Gelenkmenge zu einer realen mechanischen Struktur gehört, genügt demzufolge die Prüfung der Freiheit aller Substrukturen mit ungerader Gliedzahl.
Diese Betrachtungen machen nun die Modellierung von kinematischen Ketten und Mechanismen möglich. Assur-Gruppen dagegen müssen eine weitere Bedingung erfüllen, denn eine solche Gruppe läßt sich per Definition nicht weiter in kleinere Assur-Gruppen zerlegen. Wurde festgestellt, daß in der gesamten Struktur keine starren Teilketten existieren, dann sind die Teilketten selbst natürlich auch frei davon. Besitzt nun eine Substruktur die richtige Anzahl von Gelenken (diesmal einschließlich der Gelenke zu Gliedern, die der Substruktur nicht angehören), dann handelt es sich sofort um eine Assur-Gruppe - es sei denn, sie ist selbst aus kleineren Assur-Gruppen aufgebaut. In beiden Fällen ist die gesamte Struktur zwar real, aber keine Assur-Gruppe. Umgekehrt wird jede enthaltene Assur-Gruppe aufgespürt, wenn die Gelenkanzahlen aller Substrukturen geprüft werden. Dabei genügt es, die Substrukturen mit gerader Anzahl von Gliedern zu testen, denn nur solche können Assur-Gruppen sein.
Zur Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Strukturen dient die Anzahl s der nicht vertauschbaren Glieder: